Appell des Arbeitskreises zur Aufarbeitung der der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation
04.10.1989
Zweiter Appell: Kein neues Sterilisationsgesetz
Der Entwurf der Bundesregierung für ein neues „Gesetz über die Betreuung Volljähriger“ vom 01.02.1989 sieht die Legalisierung der Sterilisation Volljähriger ohne deren persönliche Einwilligung vor:
- wenn die Betroffenen auf Dauer einwilligungsunfähig sind und
- wenn der Eingriff nicht gegen ihren Willen erfolgt und
- wenn damit eine Schwangerschaft vermieden wird, die sonst eine Gefahr für das Leben darstellen würde oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung des seelischen Gesundheitszustandes
.
Unter letzterem will der Gesetzgeber „die Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides“ verstanden wisse, „das ihr drohen würde bei vormundschaftlichen Maßnahmen, die mit der Trennung vom Kind verbunden wären und die gegen sie ergriffen werden müssten.“
Die zunächst vorgesehene eugenische Indikation für die Sterilisation (zur Verhinderung der Geburt behinderter Kinder), angelehnt an den § 218, ist aus dem jetzigen Entwurf herausgefallen. Damit ist zumindest ein Teil der Kritik aus unserem Ersten Appell vom November 1987 angenommen worden.
Vor dem Hintergrund unseres Wissens über die Zwangssterilisation im Nationalsozialismus und der psychischen Spätfolgen von Sterilisationen ohne persönliche Zustimmung der Betroffenen warnen wir hier ein zweites Mal vor einem neuen Sterilisationsgesetz.
Der Gesetzentwurf setzt das Grundrecht auf körperliche Unverletzbarkeit für Menschen mit Behinderungen außer Kraft, wenn Gutachter sie als „einwilligungsfähig“ einstufen. Grundrechte sind aber unteilbar. Sie müssen für Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung in gleicher Weise gelten.
Ärzte und Juristen sind sich heute überhaupt nicht einig, was Einwilligungsunfähigkeit bedeuten soll. Manche verstehen darunter einen Mangel der Urteilsfähigkeit über die unmittelbaren Folgen der Sterilisation, z. B. dass der Eingriff zur Kinderlosigkeit führt. Andere verquicken die Einwilligungsunfähigkeit mit der „Einsichtsunfähigkeit“ bezüglich der weiteren sozialen Folgen, z. B. wem geborene Kinder zur Last fallen könnten. Gutachterliche Entscheidungen bieten keine stabile Grenze. Auch eugenische Motive können hier erneut Einlass finden.
Der Gesetzentwurf ermöglicht Zwangssterilisationen. Erfahrungen mit Klientinnen, die ohne oder nur mit ihrer herbeigeredeten Zustimmung sterilisiert wurden, sprechen dafür, dass der Eingriff als Zwang verarbeitet wurde und später häufig zum größten Problem ihres Lebens wird.
Der Gesetzentwurf richtet sich einseitig gegen Frauen. Gutachter sollen prognostizieren, ob die Wegnahme des Kindes „schweres und nachhaltiges Leid“ bei ihr, der Mutter, auslösen wird. Wer käme auf die Idee, eine solche Prognostik bei nicht-behinderten Frauen anzustellen? Wie aber sollen Gutachter erst das Leid einer eventuellen Mutter einschätzen, wenn es um die Sterilisation eines Mannes geht? Die Anwendung des geplanten Gesetzes auf Männer ist nicht praktikabel. In der Praxis wird man(n) die Frauen sterilisieren. Das sehen selbst die Gesetzesautoren so. Sie schreiben, sie wollten dies weder „verheimlichen noch beschönigen“.
Der Gesetzentwurf will das soziale Problem der unzureichenden Hilfen für behinderte Eltern technisch mit dem chirurgischen Eingriff „lösen“! Sollte der Gesetzentwurf verabschiedet werden, wird es zu einer Ausweitung der Sterilisationspraxis kommen, statt zu dem viel teureren Ausbau humaner Hilfen für die Betroffenen.
Es gibt keinen Bedarf für ein Sterilisationsgesetzt, wenn ausreichend Hilfen für behinderte Eltern und ihre Kinder geschaffen werden: kleine Wohngruppen, ambulante Betreuungsangebote, Erziehungspatenschaften, Elterngruppen und zeitweise Pflegefamilien.
In Erinnerung an die hunderttausende Opfer der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, denen bis auf den heutigen Tag eine politische Anerkennung und eine angemessene Entschädigung versagt wurden, fordern wir:
- das Verbot der Sterilisation Minderjähriger und
- die Erlaubnis der Sterilisation Volljähriger ausschließlich bei ihrer persönlichen, nicht ersetzbaren Einwilligung
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Wir treten ein für eine Gesellschafft, in der es nicht Menschen mit mehr oder weniger Grundrechten gibt.
Wir treten ein für eine Gesellschaft, in der Behinderte willkommen sind und auch über ihren Kinderwunsch selbständig entscheiden können.