Appell zur Errichtung eines zentralen Informations- und Gedenkortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ in der Berliner Tiergartenstraße 4

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Korrespondenzanschrift:
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der Technischen Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
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tel. 089/4140-4041

An den Herrn Bundespräsidenten, den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages, die Damen und Herren Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen des Deutschen Bundestages, den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, den Herrn Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, den Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin und die Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten, die Damen und Herren Vorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, die Mitglieder des Deutschen Bundestages Dorothee Bär, Wolfgang Börnsen, Reiner Deutschmann, Siegmund Ehrmann, Reinhard Grindel, Monika Grütters, Lukrezia Jochimsen, Jan Korte, Patrick Kurth, Agnes Krumwiede, Christoph Poland, Claudia Roth, Ulla Schmidt, Johannes Selle, Wolfgang Thierse, Marco Wanderwitz und Brigitte Zypries, sowie Herrn Bundesminster a.D. Hans-Jochen Vogel

8. Dezember 2010

Appell zur Errichtung eines zentralen Informations- und Gedenkortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ in der Berliner Tiergartenstraße 4
Bezug: beiliegender Appell vom 14. Juni 2010

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen des „Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation“ begrüßen die Unterzeichner/innen des Appells zur Errichtung eines Informations- und Gedenkortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ die parlamentarischen Initiativen, die dieses wichtige Projekt der Würdigung der Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland voranbringen. Ergänzend zu unserem Appell möchten wir zusammen mit der Initiative Berliner Bürger/innen (Runder Tisch zur Umgestaltung des ‚T4‘-Gedenkortes) unser Anliegen folgendermaßen konkretisieren:

1. Die Berliner Tiergartenstraße 4 – Ein Ort der Täter
In der Diskussion der letzten Wochen ist der Eindruck entstanden, als ginge es bei der Umgestaltung der Berliner Tiergartenstraße 4 im Wesentlichen um die Errichtung eines neuen Denkmals. Hiergegen haben wir, die wir uns seit vielen Jahren intensiv mit der Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ beschäftigen, Bedenken. Der historische Ort der Villa Tiergartenstraße 4 ist ein Ort der Täter. Hier hatte ab April 1940 eine Dienststelle der Kanzlei des Führers ihren Sitz, hier wurden die nationalsozialistischen Krankenmorde zentral organisiert. Die Erfassung und Selektion der Opfer sowie die bürokratische Abwicklung der ersten systematischen Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus nahm hier ihren Ausgang. Aber auch nach dem so genannten Stopp der „Aktion T4“ im August 1941 lief der Erfassungs- und Planungsapparat bis Kriegsende weiter. Die Berliner Zentrale versuchte in Kooperation mit dem Reichsinnenministerium die Tötungen mit Medikamenten und systematischem Nahrungsmittelentzug zu steuern. Verbindungslinien führen zu den sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“, zur Erfassung, Selektion und Ermordung behinderter Kinder („Kindereuthanasie“), zu den Dienststellen der Gesundheitsverwaltung in den Ländern, Provinzen und den eroberten Gebieten und nicht zuletzt zum System der Konzentrations- und Vernichtungslager und zur SS. An diesem Ort der Täter sind an erster Stelle Information und Aufklärung über die Akteure und die Entstehungsgeschichte der hier geplanten und ins Werk gesetzten Verbrechen notwendig. Zugleich gilt es, die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und mit ihnen auch die Opfer der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik, die zwangssterilisierten Menschen, zu würdigen. Ein Denkmal ohne weiterführende und vertiefte Dokumentation der hier organisierten Verbrechen erscheint uns an diesem Ort nicht angemessen. Das Anliegen, Information über die Täter und Würdigung der Opfer miteinander zu verbinden, ist in den vergangenen Jahren zwischen Angehörigen der Opfer, Wissenschaftler/innen, Berliner Bürger/innen sowie Vertreter/innen der Gedenkstätten der ehemaligen Tötungsanstalten intensiv diskutiert worden. Im Januar 2009 hat ein öffentliches Symposium „Umgang mit dem historischen Gelände Tiergartenstraße 4“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin fast einstimmig für das Konzept eines Informations- und Gedenkortes plädiert. Auch in unserem Appell vom 14. Juni 2010 haben wir uns ausdrücklich für die Verbindung von Information und Gedenken ausgesprochen, wobei es uns auf eben dieses „und“ ankommt.

2. Ein Informations- und Gedenkort
Eine Auseinandersetzung mit den Tätern kann an diesem Ort aber nur gelingen, wenn gleichzeitig an die Opfer erinnert wird. Erst mit Blick auf die 300.000 ermordeten psychisch kranken, geistig behinderten und sozial unerwünschten Menschen, ihre Lebenswege und Schicksale wird die Dimension dieses Massenverbrechens greifbar. Deshalb ist es uns wichtig, dass hier ein Ort der Information und des Gedenkens entsteht, der über die Entstehungsgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktionen, ihre Einbettung in eine rassenhygienisch aufgeladene Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, die unzureichende juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen sowie die fehlende Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen in beiden deutschen Staaten aufklärt und zugleich eine Würdigung der Opfer ermöglicht. Nicht zuletzt stellt sich an diesem Ort die Frage nach der Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft heute, auch mit Blick auf die gegenwärtigen bioethischen Debatten.

3. Dokumentation
Für eine überzeugende Dokumentation der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Nachwirkungen bis in die Gegenwart hinein ist eine sorgfältige Erschließung des gegenwärtigen historischen Forschungsstandes ebenso notwendig wie die Bearbeitung noch bestehender Forschungslücken. So fehlt beispielsweise ein detaillierter Überblick über Arbeitsweise, Mitarbeiter/innen und Struktur der „Euthanasie“-Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Von besonderer Bedeutung ist, dass auch die Krankenmord-Aktionen in den besetzten Gebieten Osteuropas, aber auch die Frage der Vernachlässigung und Tötung von kranken Menschen in anderen europäischen Regionen unter deutscher Herrschaft berücksichtigt werden. Schließlich muss die untrennbare Verknüpfung der „Euthanasie“-Aktionen mit den anderen Verfolgungs- und Tötungsaktionen im Nationalsozialismus, mit der der Verfolgung der so genannten „Gemeinschaftsfremden“, dem System der Lager und nicht zuletzt mit der Ermordung der europäischen Juden und der Sinti und Roma herausgearbeitet werden. Für die Erarbeitung und Umsetzung einer wissenschaftlich fundierten Dokumentation der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen sind demnach zeitlich begrenzte Personalmittel im erforderlichen Umfang einzuplanen. Für die Dokumentationsarbeit und die Erarbeitung des Präsentationskonzepts ist die Berufung eines wissenschaftlichen Beirats sinnvoll.

4. Gestaltung und künstlerischer Wettbewerb
Für die Realisierung des Informations- und Gedenkortes Tiergartenstraße 4 müssen unserer Auffassung nach auch die baulichen Voraussetzungen geschaffen werden. Wünschenswert sind Räumlichkeiten, in denen auch Veranstaltungen, die ein Lernen mit der Geschichte ermöglichen, stattfinden können. Falls sich ein eigenes Gebäude oder eine bauliche Hülle nicht realisieren lässt, sollten bereits bestehende Gebäude in die Planung einbezogen werden. Der vom Land Berlin auszuschreibende künstlerische Ideenwettbewerb, der zu konkreten, in einem angemessenen finanziellen Rahmen realisierbaren Projekten aufrufen möge, soll sich unseres Erachtens ausdrücklich auf beide Aspekte – Information über die Täter und Gedenken an die Opfer – beziehen. Wichtig dabei ist, dass der Umriss des historischen Gebäudes Tiergartenstraße 4 sichtbar gemacht und die bereits bestehende Gedenkplatte in die Gestaltung einbezogen wird.

Für die weiteren Beratungen in den Gremien des Deutschen Bundestages erscheinen uns eine Ortsbegehung sowie eine Anhörung der Betroffenenverbände und fachkundiger Historiker/innen sinnvoll. Abschließend möchten wir betonen, dass die Realisierung eines Informations- und Gedenkortes Tiergartenstraße 4 als Projekt von nationaler und europäischer Bedeutung die wichtige Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit in den Gedenkstätten der ehemaligen Tötungsanstalten der „Aktion T4“ nicht schmälern, sondern aufwerten möge.

Der „Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen ‚Euthanasieʻ und Zwangssterilisation“ steht für die Erarbeitung eines wissenschaftlichen Konzepts zusammen mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

gezeichnet:
Prof. Dr. Gerhard Baader, Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburg
Sigrid Falkenstein für den Runden Tisch zur Umgestaltung des ‚T4‘-Gedenkortes, Berlin
Dr. Petra Fuchs, Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Berlin
PD Dr. Gerrit Hohendorf, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München
Dr. Michael Wunder, Beratungszentrum Evangelische Stiftung Alsterdorf, Hamburg

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