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Appell zur Errichtung eines zentralen Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialis­tischen „Euthanasie“ in Berlin

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Korrespondenzanschrift:
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der Technischen Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
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Tel. 089/4140-4041

14. Juni 2010

Appell zur Errichtung eines zentralen Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“ in Berlin

Nachrichtlich an den amtierenden Bundespräsidenten, den Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien, den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, den Regierenden Bürgermeister von Berlin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder

Neben dem Holocaust-Denkmal sind in Berlin in den letzten Jahren weitere Mahn- und Denkmale entstanden, die den verschiedenen Opfergruppen der nationalsozialsozialistischen Gewaltherrschaft gerecht werden sollen, so das Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten Sinti und Roma. Im Zentrum von Berlin erinnert bislang jedoch nur eine unscheinbare und häufig übersehene Gedenkplatte an der Philharmonie an die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktionen: an die Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten, in den Behinderten- und Erziehungsheimen, in den Alters- und Pflegeheimen und an die behinderten Kinder, die von 1939 bis 1945 mit Gas, mit Medikamenten oder mit Hungerkost ums Leben gebracht wurden sowie an die Patienten und Patientinnen, die von den deutschen Besatzern – in den polnischen und sowjetischen psychiatrischen Krankenhäusern – erschossen, mit Giftgas ermordet oder durch Hunger und Kälte zu Tode gebracht worden sind. Zusammen mit denjenigen, die gegen ihren Willen sterilisiert worden sind, zusammen mit den Zwangsarbeiter/innen und den Häftlingen der Konzentrationslager, die Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms geworden sind, gehören sie zu den immer noch vergessenen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Heute wichtig ist, dass den „Euthanasie“-Opfern ein angemessener Platz in der Gedenkkultur unseres Landes eingeräumt wird und dass die betroffenen Familien nicht mehr das Gefühl haben, hier handele es sich um Opfer zweiter Klasse, die im offiziellen Gedenken – wenn überhaupt – dann nur am Rande Erwähnung finden. Dieses Schweigen führt zu einer fortgesetzten Stigmatisierung der ermordeten Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus als minderwertig und als „unnütze Esser“ galten. Für eine Gesellschaft, die für die Rechte von Menschen mit seelischen oder körperlichen Beeinträchtigungen eintritt, sollte es selbstverständlich sein, dass sie sich auch für das Gedenken an eben jene Kinder, Frauen und Männer einsetzt, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung unter dem Deckmantel des „Gnadentodes“ ermordet worden sind. Dies gilt umso mehr als die Justiz – mit gewissen Unterschieden in beiden deutschen Staaten – gegenüber den Tätern bis in die 1980er Jahre hinein eine erstaunliche Milde und Nachsicht hat walten lassen.

Zwar haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten an zentralen Orten der Verbrechen – den ehemaligen Gasmordanstalten der so genannten Aktion T4 – Gedenkstätten entwickelt, die eine wichtige Arbeit für die betroffenen Familien und gerade auch für die jungen Menschen in Deutschland leisten. Auch an einzelnen Psychiatrischen Kliniken gibt es Gedenktafeln und Mahnmale. Für die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung der „Euthanasie“-Opfer ist jedoch ein Gedenk- und Informationsort in Berlin von zentraler Bedeutung. Dies wird auch von einer Initiative Berliner Bürgerinnen und Bürger, unter ihnen betroffene Familienangehörige, seit Jahren mit großem Engagement gefordert.

Der Platz vor der Philharmonie in Berlin, an der Tiergartenstraße Nr. 4, macht es geradezu notwendig, hier einen Ort des Gedenkens und der Information über die „Euthanasie“-Verbrechen zu schaffen, da hier in der Zeit des Nationalsozialismus das Gebäude stand, von dem aus die Krankenmorde zentral geplant und organisiert worden sind.

Demnächst soll vom Land Berlin ein Ideenwettbewerb für die künstlerische Umgestaltung dieses Areals ausgelobt werden. Bereits im Januar 2009 wurden auf einem Symposium in Berlin – veranstaltet von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden und der Topographie des Terrors – die verschiedenen Konzepte diskutiert, und es wurde einmütig für einen Gedenk- und Informationsort vor der Berliner Philharmonie votiert. Die Realisierung dieses Projektes hängt jedoch unabdingbar von einer finanziellen Förderung durch die Bundesregierung ab.

Der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, der sich seit 25 Jahren für die Aufarbeitung der Erbgesundheits- und „Euthanasie“-Verbrechen einsetzt, appelliert daher an alle politisch Verantwortlichen in Deutschland, sich für die Errichtung eines Dokumentions- und Gedenkortes am historischen Standort der Planung und Organisation der nationalsozialistischen Krankenmorde in der Berliner Tiergartenstraße einzusetzen und die erforderlichen Bundesmittel bereitzustellen. Die Realisierung dieses Vorhabens ist unserer Meinung nach eine nationale Aufgabe, die dem Anspruch unseres Landes, für eine Erinnerung an alle Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus erniedrigt, entwürdigt und schließlich ermordet worden sind, einzutreten, gerecht wird. Dies gilt eben auch und gerade für diejenigen Menschen, die nicht über eine starke Interessenvertretung verfügen. Es ist notwendig und an der Zeit, ein Zeichen des Gedenkens an diese Opfer auf nationaler Ebene zu schaffen und den betroffenen Familien ebenso wie den heute mit körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen lebenden Menschen zu zeigen, dass der „Euthanasie“-Opfer gleichberechtigt mit allen anderen Opfergruppen gedacht wird. Zugleich ist es für die Kultur einer solidarischen Gesellschaft unabdingbar, sich mit der Entstehungsgeschichte der Krankenmorde und mit der Geschichte der Täter auseinanderzusetzen. Hierzu eignet sich der Ort der Berliner Tiergartenstraße 4 in besonderer Weise.

gezeichnet:
Prof. Dr. Gerhard Baader, Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburg
Dr. Petra Fuchs, Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Berlin
PD Dr. Gerrit Hohendorf, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München
Dr. Michael Wunder, Beratungszentrum Alsterdorf, Hamburg

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