Zurück

 

Appell zur Schaffung eines würdigen Gedenk- und Erinnerungsortes für die Opfer der national­sozialis­tischen „Kindereuthanasie“ in Waldniel-Hostert

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Korrespondenzanschrift
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der Technischen Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
email hidden; JavaScript is required
Tel. 089/4140-4041

Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Willy-Brandt-Str. 1
10557 Berlin

19. Juni 2012

Appell zur Schaffung eines würdigen Gedenk- und Erinnerungsortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ in Waldniel-Hostert

Verteiler:
– Bischof von Aachen, Herr Dr. Heinrich Mussinghoff
– Bürgermeister der Gemeinde Schwalmtal, Herr Reinhold Schulz
– Landrat des Kreises Viersen, Herr Peter Ottmann
– Kreistag des Kreises Viersen
– Landesdirektorin des Landschaftsverbandes Rheinland, Frau Ulrike Lubek
– Vorsitzende/r der Landschaftsversammlung Rheinland, Herr Prof. Dr. Jürgen Wilhelm
– Landeskonservatorin, LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Frau Dr. Andrea Pufke
– Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Hannelore Kraft
– Minister/in für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen
– Präsidium des Landtages des Landes Nordrhein-Westfalen
– Beauftragter der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen für die
   Belange der Menschen mit Behinderung, Herrn Norbert Killewald
– Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel
– Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Herr Bernd Neumann
– Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble
– Präsident des Deutschen Bundestages, Herr Prof. Dr. Norbert Lammert
– Bundespräsident, Herr Dr. h.c. Joachim Gauck
– Aktion Psychisch Kranke e.V., Herrn Peter Weiß, MdB

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

der interdisziplinäre Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, ein Zusammenschluss von psychiatrisch und therapeutisch Tätigen, Historiker/innen, engagierten Bürger/innen und anderen, beschäftigt sich seit nunmehr fast 30 Jahren mit den nationalsozialistischen „Euthanasie“- und Sterilisationsverbrechen und hat für die gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Teils der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Deutschland und Europa wesentliche Impulse gegeben.

Im Rahmen der Frühjahrstagung des Arbeitskreises im April 2012 haben wir auch das Gelände der ehemaligen „Kinderfachabteilung“ in Waldniel-Hostert (Gemeinde Schwalmtal) besichtigt. In dieser von 1937 bis 1952 in der Trägerschaft des Rheinischen Provinzialverbandes, heute Landschaftsverband Rheinland, stehenden, ursprünglich
kirchlichen Pflegeanstalt wurde in den Jahren 1941 bis 1943 eine der reichsweit etwa 30
„Kinderfachabteilungen“ betrieben: Hier wurden körperlich und geistig behinderte Kinder oder sozial auffällige Jugendliche beobachtet, selektiert und durch Medikamente und Vernachlässigung gezielt ums Leben gebracht. Waldniel war nach der Zahl der Betten und der Zahl der hier aufgenommen Kinder eine der größten Kinderfachabteilungen im Reichsgebiet, etwa 100 Kinder sind in Waldniel ermordet worden. Nach der Auflösung der Kinderfachabteilung Waldniel wurden die verbliebenen 185 Kinder in andere Kinderfachabteilungen verlegt und dort größtenteils getötet. Waldniel spielt als Tötungsort für die Geschichte der Psychiatrie in der Rheinprovinz eine ganz besondere Rolle.

Von 1945 an wurde das Gelände von der britischen Armee als Lazarett bzw. Militärhospital und ab 1963 als Schule („Kent School“) genutzt. Von 1992 an wurde das Gelände von der Bundesvermögensverwaltung zum Verkauf angeboten und zuletzt 2006 von einem Privatinvestor erworben, die Gebäude, einschließlich der Anstaltskirche, sind seit langem dem Verfall preisgegeben. Bei unserem Besuch mussten wir feststellen, dass die Gebäude tatsächlich weitgehend verfallen sind. Ein Betreten ist nach Mitteilung des Besitzers wegen Einsturz- und Verletzungsgefahr nur mit Sondergenehmigung, Schutzkleidung und auf eigene Verantwortung möglich. Das ganze Objekt wird von einem privaten Wachdienst in Uniformen bewacht. Die jungen Männer sind nach eigenen Angaben „ehrenamtlich“ tätig. Offensichtlich werden in den Gebäuden Kampfspiele wie „Paintball“ durchgeführt. Überall finden sich Hinweise auf eine paramilitärische Nutzung dieser ehemaligen Kindermordanstalt.

Wie wir inzwischen erfahren haben, gibt es auch im Internet inzwischen eine lebhafte Debatte unter interessierten Personen über Waldniel-Hostert. Auf Jugendliche hat das Gelände offensichtlich aufgrund seiner NS-Geschichte eine besondere Anziehungskraft. Auf Youtube sind Videos zu sehen, in denen der Besuch der Einrichtung als Gruselspiel (youtube Kent School) inszeniert wird. Aus den Kommentaren ist ersichtlich, dass das „Gruselhaus“ längst als besonders spannender Ort für alle möglichen „Spielchen“ in diversen Szenarien bekannt ist.

Die Mitglieder des Arbeitskreises – unter ihnen zahlreiche renommierte Wissenschaftler/innen und Leiter/innen der Gedenkstätten der ehemaligen „Euthanasie“-Tötungsanstalten haben auf die Situation in Waldniel-Hostert mit großer Betroffenheit reagiert. Aus der Sicht des Arbeitskreises kann es nicht hingenommen werden, dass ein Ort nationalsozialistischer Kindertötungen so verfällt und in einer Weise Verwendung findet, die das Andenken der ermordeten Kinder beschädigt und die Opfer entwürdigt. Es kann nicht angehen, dass an einem prominenten Ort nationalsozialistischer Verbrechen paramilitärische Spiele veranstaltet werden.

Es ist Menschen und Schulklassen vor Ort zu verdanken, dass sich auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof ein kleiner Gedenkort befindet. Von einem Bürger der Region ist vor kurzem eine umfassende wissenschaftliche Dokumentation der „Euthanasie“-Verbrechen in Waldniel vorgelegt worden. Das entbindet die politisch Verantwortlichen in der Region, namentlich den Landschaftsverband Rheinland, das Regierungspräsidium Düsseldorf, das Land Nordrhein-Westfalen, die Bundesrepublik Deutschland als letzten öffentlichen Eigentümer des Geländes und nicht zuletzt das Bistum Aachen als Verantwortliche für die ebenfalls verfallende Anstaltskirche jedoch nicht von der Verpflichtung, für einen würdigen Ort des Gedenkens an die ermordeten Kinder zu sorgen.
Wir appellieren daher an die politisch Verantwortlichen in der Region, im Land Nordrhein-Westfalen und an die Bundesregierung, die Zustände in Waldniel zu ändern und fordern sie insbesondere auf

1. die Entwürdigung des historischen Ortes der nationalsozialistischen Kindertötungen durch paramilitärische und Horrorspiele sofort wirksam zu unterbinden.
2. das gesamte Gelände unter Denkmalschutz zu stellen.
3. den Eigentümer dazu aufzufordern, schnellstmöglich ein überzeugendes Gesamtnutzungskonzept für das Gelände vorzulegen, das auch die Einrichtung eines würdigen Ortes der Erinnerung, des Gedenkens und der Information (s.u.) berücksichtigt.
4. unter Umständen auch eine Enteignung des Geländes in Erwägung zu ziehen,
5. zusammen mit den historisch aktiven Personen und Gruppen vor Ort so bald als möglich ein Konzept für einen würdigen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der Information über die nationalsozialistischen Verbrechen an geistig und körperlich behinderten Kindern zu entwickeln.

Das sind wir, das sind Sie, die politisch Verantwortlichen in der Region, im Land Nordrhein-Westfalen und im Bund den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Dies ist umso wichtiger, als es bis heute keine einzige Gedenkstätte für die etwa 8.000 Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde im ehemaligen Zuständigkeitsbereich des rheinischen Provinzialverbandes gibt.

Wir möchten Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, bitten, die Verantwortung für das Gelände, das sich zuletzt im Eigentum Bundes befunden hat und das einen historischen Ort der nationalsozialistischen “Euthanasie”-Verbrechen darstellt, zu übernehmen und für einen würdigen Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die ermordeten Kinder Sorge zu tragen. Gerne steht Ihnen der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation dabei unterstützend und begleitend zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Uta George, Soziologin, Bad Homburg

PD Dr. Gerrit Hohendorf, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München

Dr. Friedrich Leidinger, Psychiater, Viersen

Dr. Thorsten Noack, Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Dr. Ralf Seidel, Psychiater, Mönchengladbach

Zurück