Zum Hintergrund

In den Jahren 1933 bis 1945 wurden zehntausende psychisch kranke, geistig behinderte oder sozial auffällige Männer, Frauen und Kinder verstümmelt oder ermordet. Für sie gab es keinen Platz in der so genannten deutschen Volksgemeinschaft. Ihre Versorgungs- und Unterstützungs­bedürftigkeit hatte sie zu „Ballastexistenzen“ gemacht, die es zu beseitigen galt. Die national­sozialistische Diktatur bot die Voraussetzungen für Legitimation und Organisation dessen, was Politiker und Ärzte schon lange gefordert hatten. Tradierte Vorurteile gegenüber Kranken und Behinderten wie auch die sozialen Verteilungskämpfe ließen den größten Teil der Bevölkerung dazu schweigen.

Als ersten Schritt auf dem Weg zur Ausgrenzung verabschiedete die nationalsozialistische Reichsregierung am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Durch zwangsweise Sterilisation sollte die Weitergabe von so genannten Erbkrankheiten auf folgende Generationen verhindert werden. Als „erbkrank“ galten Menschen, die zum Beispiel an körperlicher oder geistiger Behinderung, Schizophrenie, Epilepsie, Blindheit oder Taubheit litten. Das Gesetz traf aber auch „Asoziale“, Hilfsschüler, Fürsorgezöglinge, Tuberkulosekranke und Alkohol­abhängige. Die Betroffenen erlebten nicht nur einen ungewollten und gefährlichen Eingriff in ihren Körper, sondern auch einen umfassenden Ausschluss aus dem Bildungs- und Sozialbereich.

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges führte zu einer Schwerpunktverlagerung. Die – wenn überhaupt erst in kommenden Generationen wirkende und verwaltungstechnisch aufwändige – zwangsweise Sterilisation wurde weitgehend eingeschränkt. Dafür begann der Massenmord an kranken, behinderten, sozial auffälligen und alten Menschen. Bei dessen Planung setzen die Organisatoren voraus, dass sich in den Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches mindestens 70.000 unheilbar kranke und vor allem dauerhaft pflegebedürftige Insassen aufhielten. Ihr Tod sollte Kosten sparen und gleichzeitig den absehbar benötigten Lazarettraum für verletzte Soldaten schaffen.

Der Massenmord unterteilte sich in drei einzelne Aktionen:

1939 – 1945           Tötung von Kindern und Jugendlichen aus häuslicher Pflege in den so genannten Kinderfachabteilungen (Kinder-„Euthanasie“);

1940 – 1941            Tötung von 70.273 Insassen von Heil- bzw. Pflegeanstalten in sechs zentralen Gasmordanstalten (Aktion T 4);

1942 – 1945           Tötung einer unbekannten Zahl von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeeinrichtungen und Altersheimen dezentral in fast 100 psychiatrischen Einrichtungen durch systematischen Entzug der Nahrung (so genannte E-Kost) oder durch Medikamente („wilde“ oder „dezentrale Euthanasie“).

Die Täter der „Euthanasie“ fühlten sich nicht als Mörder, sondern als Reformer, und behaupteten, „aus Mitleid getötet“ zu haben.

Nach dem Ende des NS-Regimes stand die deutsche Justiz vor dem Problem, die organisierten Massenmorde der „Euthanasie“ zu ahnden. Für eine juristische Verurteilung der Täter bedurfte es zudem konkreter Nachweise der einzelnen Tötungshandlungen, die zumeist nicht beizubringen waren. In den einzelnen Strafverfahren versuchten die Angeklagten deswegen zumeist erfolgreich, sich als reine Befehlsempfänger ohne eigene Handlungsalternative zu präsentieren und den Mord als Erlösung „niedergeführter Existenzen“ von ihren Leiden darzustellen. Die geringen Strafen und häufigen Freisprüche sowie der Verbleib der Ärzte und Pflegekräfte in ihren Berufsfeldern stehen für die justizielle ebenso wie für die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Begründungen.

Die Opfer blieben ausgegrenzt und weiter stigmatisiert. Im Dezember des Jahres 2009 löste sich eine erst 1987 gegründete Vereinigung von Opfern des Nationalsozialismus auf: der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V.. Die Mitglieder hatte es als ihr Anliegen betrachtet, über das historische Geschehen zu informieren und für eine rechtliche Gleichstellung der „Euthanasie“-Geschädigten und der Zwangssterilisierten mit anderen Opfern des NS-Regimes zu kämpfen. Inzwischen sind jedoch die meisten von ihnen verstorben. Als Ansprechpartner dient nun die Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten.

Mittlerweile erinnern an den Orten aller sechs Gasmordanstalten Gedenkstätten an die Opfer, informieren über Täter und ihre Ideologie, vermitteln das Wissen über das historische Geschehen an die Besucher und stehen als Ansprechpartner für Angehörige wie für Historiker zur Verfügung.

Dr. Ute Hoffmann
Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg