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Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Korrespondenzanschrift:
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Technische Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
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tel. 089/4140-4041

Kloster Irsee im Mai 2011

Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik

Der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, ein Zusammenschluss von Historiker/innen und Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind, von engagierten Bürger/innen und Vertreter/innen von Betroffenenorganisationen, beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen und bringt sich aus der historischen Arbeit heraus immer wieder auch in aktuelle bioethische Debatten ein. Im Rahmen seiner Frühjahrstagung im Mai 2011 im Schwäbischen Bildungszentrum Kloster Irsee hat sich der Arbeitskreis intensiv mit der Präimplantationsdiagnostik auseinandergesetzt.
In dem Bewusstsein, dass Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages bei der gesetzlichen Regelung der Präimplantationsdiagnostik und bei der Entscheidung über die drei vorliegenden Gesetzentwürfe vor ebenso schwierigen wie wichtigen ethischen Fragen und Weichenstellungen stehen, möchten wir Sie bitten, die folgenden Argumente, die sich aus der langen und bis heute nachwirkenden Geschichte der Eugenik und aus der nationalsozialistischen Praxis von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ ergeben, bei Ihrer Entscheidung zu bedenken:

1.
Die Präimplantationsdiagnostik ist eine technologische Entwicklung der modernen Reproduktionsmedizin, bei der menschliche Embryonen nach der künstlichen Befruchtung und vor ihrem Transfer in die Gebärmutter auf genetische Abweichungen hin untersucht werden. Anhand des Untersuchungsergebnisses wird dann die Entscheidung über die Weiterentwicklung der Embryonen in der Gebärmutter oder über ihre „Verwerfung“ getroffen. Das Grundprinzip der Präimplantationsdiagnostik besteht in einem selektiven Blick auf sich entwickelndes menschliches Leben: Es wird darüber entschieden, welche Formen menschlichen Lebens sich entwickeln sollen und welche nicht. Die Technik der Präimplantationsdiagnostik steht damit in der Tradition von Ideen zur Optimierung der menschlichen Fortpflanzung, bei der bestimmte genetische Eigenschaften von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Die Selektion von Embryonen im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik setzt immer Entscheidungen über einen unterschiedlichen Wert von menschlichem Leben voraus, z. B. im Hinblick auf erblich bedingte Erkrankungen wie Mukoviszidose oder im Hinblick auf Chromosomenanomalien wie Trisomie 21. Der selektive Blick der Präimplantationsdiagnostik lässt sich auch durch eine Beschränkung auf Paare, bei deren Nachkommen „eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit“ besteht, nicht vermeiden.

2.
Eine grundlegende Kategorie der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und ihrer Vordenker zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Unterscheidung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben. Eine solche Unterscheidung wird bei der Präimplantationsdiagnostik durch die Reproduktionsmediziner/innen im Einvernehmen mit den Paaren, die sich einer künstlichen Befruchtung mit Präimplantationsdiagnostik unterziehen, vorgenommen. Es ist nachvollziehbar, dass sich die betroffenen Paare ein „gesundes“ Kind oder ein „nichtbehindertes“ Kind wünschen, doch wird dieser Wunsch bei Anwendung der Präimplantationsdiagnostik durch die Selektion von Embryonen realisiert. Wer aber kann und darf anhand welcher Kriterien die Entscheidung treffen, welche erblichen Erkrankungen bzw. welche Chromosomenanomalien menschliches Leben so kennzeichnen, dass es nicht gelebt werden soll? Auf diese Frage müssen die Befürworter einer begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik eine überzeugende Antwort finden. Diese Antwort müsste mit dem Gedanken vereinbar sein, dass dem Grunde nach jedem menschlichen Individuum zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung eine ihm eigene und unteilbare Würde zukommt. Dabei ist auch zu bedenken, dass diese Selektionsentscheidungen Rückwirkungen haben auf die Menschen, die mit den Erkrankungen oder Behinderungen leben, die bei der Präimplantationsdiagnostik ausgeschlossen werden sollen, und die sich in ihrem Recht auf Leben in Frage gestellt fühlen können. Weiterhin ist angesichts der Indikationsausweitung in anderen europäischen Ländern fraglich, ob sich die Präimplantationsdiagnostik in der Praxis überhaupt auf den unbestimmten Begriff „schwerwiegender Erbkrankheiten“ begrenzen lässt.

3.
Befürworter/innen der Präimplantationsdiagnostik sehen in dieser Technologie ein Mehr an individueller Freiheit für Paare verwirklicht, die von einer genetischen Erkrankung betroffen sind. Die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik jedoch stellt diese Paare auch vor die Notwendigkeit, sich für oder gegen die Nutzung dieser Technologie entscheiden zu müssen. Was als Gewinn an individueller Entscheidungsfreiheit bei der Fortpflanzung angesehen wird, unterliegt zugleich Prozessen gesellschaftlicher Erwartungen, was „normal“, was wünschbar und was machbar ist. Die nachvollziehbaren Wünsche betroffener Paare ändern nichts an der Tatsache, dass mit der gesetzlichen Zulassung der Präimplantationsdiagnostik eine grundsätzliche Wertentscheidung verbunden ist: Die Präimplantationsdiagnostik öffnet die Tür für die Möglichkeit, den Menschen als herstellbares Produkt seines Erzeugers und seiner Erzeugerin zu sehen. Der Mensch wäre dann nicht mehr ein Individuum, das in seiner Einmaligkeit unabhängig von menschlicher Verfügung natürlich geworden ist. Insofern steht tatsächlich die Frage der Unantastbarkeit der Würde des Menschen zur Debatte.

Unterzeicher/innen:
Prof. Dr. Gerhard Baader, Medizinhistoriker, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
PD Dr. Thomas Beddies, Medizinhistoriker, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Karin Berndt, Mannheim
Dr. Heike Bernhardt, Kinderpsychiaterin und Psychotherapeutin, Berlin
Dr. Christof Beyer, Kulturwissenschaftler, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
Christel Bodenhaupt, Exam. Altenpflegerin i. R., Stuttgart
Dr. Christian Burgmann, Arzt, LVR-Klinik Bonn
Prof. Dr. Michael von Cranach, Psychiater, München
Ute Daub, Dipl. Soz. Frankfurt am Main
Anna Barbara Dell, M.A. Soz., Mitglied im Arbeitskreis Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus in Mannheim e.V., Mannheim
Udo Dittmann, Förderschullehrer, Forum Bioethik, Braunschweig
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Psychiater und Soziologe, Hamburg
Gerda Engelbracht, Kulturwissenschaftlerin, Geschichts- und Kulturkonzepte GbR, Bremen
Maria Fiebrandt MA, Historikerin, Technische Universität Dresden
Dr. Petra Fuchs, Erziehungswissenschaftlerin und Historikerin, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dr. Uta George, Soziologin, Bad Homburg
Peter Göbel-Braun, Pfarrer, Dipl. Päd., Direktor, Hephata Hessisches Diakoniezentrum e. V.
Dr. Dipl.-Ing. Matthias Hamann-Roth, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Hannover
Margret Hamm, Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Berlin
Dr. Andrea Hauser, Kulturwissenschaftlerin, Geschichts- und Kulturkonzepte GbR, Bremen
Holger Heupel, Dipl. Sozialarbeiter, Klinikum Offenbach GmbH, Frankfurt am Main
Dr. Magdalene Heuvelmann, Historikerin, Glandorf
Maria Heuvelmann, Dipl. Psych., Rhein-Mosel-Akademie des Landeskrankenhauses (AöR) Andernach
Dr. Annette Hinz-Wessels, Historikerin, Berlin
PD Dr. Gerrit Hohendorf, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinhistoriker, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München
Dr. Harald Jenner, Historiker, Archivar, Publizist, Hamburg/Berlin
Gunda John, Fachlehrerin i. R., Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie in Alzey/Rheinhessen
Dr. Uwe Kaminsky, Historiker, Ruhr-Universität Bochum
Tanja Kipfelsperger, Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
Maria Kiss, Dipl. Päd., Oyten
Ernst Klee, Buchautor „Euthanasie“ im NS-Staat, Frankfurt am Main
Hedi Klee, Journalistin, Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie in Alzey/Rheinhessen, Alzey
Manfred Klüppel, Lehrer und Krankenpflegehelfer, Hannah-Ahrend-Gymnasium, Garbsen
Dr. Friedrich Leidinger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Geriatrie, Chefarzt LVR-Klinik-Viersen
Dr. Rolf J. Lorenz, Dipl. Mathem., Tübinger Initiative gegen die Bioethik-Konvention, Tübingen
Dr. Andreas Manteufel, Psychologischer Psychotherapeut, LVR-Klinik Bonn
Dr. Karl-Horst Marquart, Arzt, MPH, Gesundheitsamt, Stuttgart
Elke Martin, Die Anstifter, Stuttgart
Ilse Nevesely, Mannheim
Thomas Oelschläger, Verleger, Münster/Ulm
Linda Orth, Archivarin, LVR-Klinik Bonn
Dr. Franz Plaum, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, Gießen
Margit Plaum, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Gießen
Dr. Stefan Raueiser, Schwäbisches Bildungszentrum Kloster Irsee
Helga Reese, M. Sc., Neurologin, LVR-Klinik Bonn
Martin Rexer MA, Geschäftsführer, Stuttgart
Barbara Ritter, Mannheim
Prof. Dr. Volker Roelcke, Medizinhistoriker, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen
Stefan Romey, Vorstandsvorsitzender Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte, Hamburg
Renate Rosenau, OStuD i. R., Arbeitsgruppen NS-Psychiatrie in Alzey/Rheinhessen und Bendorf-Sayn
Dr. Maike Rotzoll, Fachärztin für Psychiatrie und Medizinhistorikerin, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg
Isabella Ruhland, Ärztin, München
Dr. Hans-Werner Scheuing, Dipl. Päd., Sonderschullehrer, Arbeitskreis Menschenwürde und Bioethik der Johannes-Diakonie Mosbach
Dr. Thomas Schmelter MA, Oberarzt, Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, Werneck
Apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, Historiker, Bielefeld
Dr. Rebecca Schwoch, Historikerin, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg
Ulrike Steinert, Krankenschwester, Psychiatrische Klinik Lüneburg
Dr. Rainer Stommer, Kunsthistoriker, Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse, Alt Rehse
Achim Tischer, Kulturwissenschaftler, KulturAmbulanz, Klinikum Bremen-Ost
Sascha Topp, MA, Historiker, Berlin
Armin Trus, Lehrer, Gießen
Johanna Wigger, Studentin BA Soziale Arbeit, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Berlin
Veronika Wallis-Violet, Mannheim
Dr. Michael Wunder, Psychologischer Psychotherapeut, Evangelische Stiftung Alsterdorf, Hamburg

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