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Gedenk- und Informationsort für die Opfer der national­sozialistischen „Kindereuthanasie“ in Waldniel-Hostert

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Korrespondenzanschrift
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der Technischen Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
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Tel. 089/4140-4041

Ministerpräsidentin des Landes
Nordrhein-Westfalen Frau Hannelore Kraft Staatskanzlei
40190 Düsseldorf

13. Dezember 2012

Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ in
Waldniel-Hostert

Bezug: unser Appell vom 12. Juni 2012
Nachrichtlich an die Landesdirektorin des LVR, die Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW und den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages

 

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,

im vergangenen Juni haben wir an die Landesregierung NRW, die Bundesregierung, den Bundespräsidenten, die Präsidenten des Deutschen Bundestages und des Landtags NRW, den Landrat des Kreises Viersen, den Bürgermeister der Gemeinde Schwalmtal, die Direktorin des Landschaftsverbandes Rheinland, den Bischof von Aachen und weitere Persönlichkeiten appelliert, auf dem Gelände der ehemaligen „Kinderfachabteilung“ in Waldniel-Hostert (Gemeinde Schwalmtal) eine dem Ort und seiner Geschichte angemessene Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ zu schaffen. Wir haben von zahlreichen Stellen, auch von Ihrer Regierung, hierzu eine ermutigende, positive Resonanz, jedoch bisher noch nichts Konkretes erfahren. Hervorzuheben ist die konstruktive Antwort des Eigentümers der Liegenschaft, Herrn Dr. Janßen aus Schwalmtal, der in einer öffentlichen Zuschrift seine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft erklärt hat und den Vorschlag gemacht hat, das Objekt zu einem symbolischen Kaufpreis einem noch zu bestimmenden Träger für den von uns genannten Zweck zu übereignen.

Auch wenn den Autoren des Appells vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) bisher keine Stellungnahme zugegangen ist, so haben wir doch erfahren, dass die Kulturabteilung des LVR in Brauweiler zunächst tätig geworden ist und den Eigentümer, Vertreter der Gemeinde Schwalmtal (Mitglieder des Rates und der Verwaltung), mehrere Lehrerinnen und Lehrer sowie einen der Unterzeichner des Appells zu einem „Runden Tisch“ am 25.10.2012 eingeladen hat. Die von dem Vertreter des LVR auf dieser Veranstaltung gemachten Vorschläge lauten sinngemäß, der LVR wolle die bereits in Eigeninitiative verschiedener örtlicher Schulen bestehenden Projekte mit Schülerinnen und Schülern und die Renovierung des außerhalb des Gebäudekomplexes gelegenen Denkmals fördern. Diese Vorschläge entsprechen in keiner Weise den Erwartungen der Vertreter der Gemeinde Schwalmtal noch den Erwartungen des Eigentümers und auch nicht unseren Forderungen. Sie lassen vor allem die Problematik der vom Verfall bedrohten, teilweise denkmalgeschützten Gebäude außer Acht, zumal – wie in unserem Appell vom 12. Juni 2012 beschrieben – an diesem Ort nationalsozialistischer Verbrechen Horrorvideos von Jugendlichen und paramilitärische Spiele inszeniert worden sind.

Wir, der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation haben daher auf unserer Herbsttagung vom 09.11. bis 11.11. diesen Jahres in Leipzig erneut über Waldniel-Hostert beraten und auch die überwiegend zustimmenden Reaktionen auf unseren Appell ausgewertet. Die bisherige, leider ungenügende Reaktion der Landesregierung und des LVR auf den Appell ist uns Anlass, unseren Appell zu bekräftigen.

Nach unserer begründeten Auffassung ist Waldniel-Hostert ein deutscher Erinnerungsort von herausragender nationaler wie regionaler Bedeutung. Hier wurde auf Grund einer Verfügung des damaligen Gesundheitsdezernenten der Preußischen Rheinprovinz, Prof. Walter Creutz, eine der größten Kindermordanstalten des Deutschen Reiches eingerichtet, in der im Rahmen eines zentralen, im ganzen Reich durchgeführten Programms körperlich oder geistig behinderte, nach damaliger Auffassung nicht förderbare Kinder ermordet wurden.

Bis heute sind die Hinterbliebenen dieses Verbrechens, dem in Waldniel-Hostert nach den Erkenntnissen des Schwurgerichts Düsseldorf 1950 mindestens 30, nach heutigem historischen Wissen aber wahrscheinlich an die 100 Kinder zum Opfer gefallen sind, in keiner Weise entschädigt, geschweige denn moralisch rehabilitiert worden.

Viele Aspekte der damals begangenen Verbrechen an kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen sind bis heute unaufgeklärt:

  • Nach unseren Erkenntnissen sind in der Teilanstalt Waldniel-Hostert zwischen 1940 und 1945 neben den 100 Todesfällen von Kindern über 500 weitere Todesfälle durch das örtlich zuständige Standesamt in Viersen beurkundet worden. Bei dieser horrenden Sterblichkeit liegt die dringende Vermutung nahe, dass es sich um Opfer des behördlich angeordneten Nahrungsentzuges handelt, für den die damalige Anstaltsleitung in Johannistal und der Oberpräsident der Rheinprovinz die unmittelbare Verantwortung tragen. Die näheren Umstände dieses Hungersterbens sind allerdings bis heute nicht aufgeklärt.
  • Noch heute finden Anwohner menschliche Gebeine in ihren Gärten, die wahrscheinlich auf dem während der NS-Zeit betriebenen Anstaltsfriedhof bestattet wurden. In der Nachkriegszeit wurden hier Wohngebäude errichtet. Diese Skelettfunde werden zurzeit von der Staatsanwaltschaft aufgeklärt. Offenkundig handelt es sich bei den toten Kindern und Erwachsenen um Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Allein schon aus diesem Grund verdienen ihre sterblichen Überreste den besonderen Schutz des demokratischen Nachfolgestaates.

Bisher ist – abgesehen von den strafrechtlichen Ermittlungen 1948–1950 gegen einzelne Ärzte der Rheinprovinz – von den politisch Verantwortlichen aus keine systematische Erforschung der in Waldniel-Hostert begangenen Morde erfolgt.

Die Pflege der Erinnerung an die Opfer der Kinder-„Euthanasie“ in Waldniel-Hostert haben sich seit etwa 30 Jahren engagierte Lehrerinnen und Lehrer der örtlichen Schulen zur Aufgabe gemacht. Die Gemeinde Schwalmtal hat einen Teil des ehemaligen Anstaltsfriedhofs außerhalb des Geländes gärtnerisch gestaltet und einen Gedenkstein aufgestellt. Ein Bankkaufmann, der zufällig mit der Thematik in Berührung kam, begann 2006 mit einer systematischen Erforschung der vorhandenen historischen Quellen in zahlreichen Archiven – in seiner Freizeit – und hat mit seiner Buchpublikation zur „Kinderfachabteilung Waldniel“ einen wesentlichen Beitrag zur historischen Aufklärung geleistet.

Die Unterzeichner/innen dieses Appells begrüßen dieses Engagement. Die historische Aufklärung, die Pflege der Erinnerung und die würdige Bestattung der noch vorhandenen Gebeine der Opfer des in Waldniel-Hostert verübten Staatsverbrechens kann aber nach unserer Überzeugung nicht alleine der örtlichen politischen Gemeinde, den örtlichen Schulen und dem ehrenamtlichen Engagement einzelner Bürgerinnen und Bürger aufgebürdet werden.

Wir sehen hier den demokratischen Staat, das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesregierung, in der Pflicht. Auch zu den Aufgaben des Landschaftsverbandes Rheinland als Träger psychiatrischer Kliniken, als Träger der überörtlichen Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und weiterer Aufgaben nach dem Schwerbehinderten-Gesetz sehen wir vielfältige inhaltliche Verbindungen.

Wir wenden uns daher erneut an Sie mit der Bitte, dafür zu sorgen, dass die notwendigen Schritte für eine Erhaltung von Waldniel-Hostert als Ort des Erinnerns, des Gedenkens und der Information zu den nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“-Verbrechen eingeleitet werden.

Wir fordern

  • die Durchführung eines Ideen-Workshops über die mögliche zukünftige Nutzung des Komplexes in Waldniel-Hostert in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland und mit weiteren in Frage kommenden Partnern;
  • eine Bestandsaufnahme des baulichen Zustands der Anlage im Hinblick auf eine zukünftige Nutzung durch die staatliche Bauverwaltung in Absprache mit dem Eigentümer;
  • die Ermittlung des Investitionsbedarfs und Erstellung einer Wirtschaftlichkeitsanalyse für eine zukünftige Nutzung des Objektes in Abhängigkeit von der jeweiligen Nutzungsart;
  • die Ausschreibung eines angemessen dotierten Forschungsprojektes zur Durchführung der NS-„Euthanasie“ und speziell der bisher kaum erforschten „Kindereuthanasie“ in der ehemaligen preußischen Rheinprovinz und der Provinz Westfalen, dem Gebiet des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen.
  • bereits jetzt die Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel des Landes NRW und des Bundes zur Errichtung eines würdigen Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der Kindereuthanasie in Waldniel-Hostert vorzubereiten.

Wir möchten Sie dringend bitten, im Rahmen Ihrer Verantwortung als Ministerpräsidentin dafür Sorge zu tragen, dass dem weiteren Verfall der Anlage und der Entwürdigung des Geländes durch Horrorvideos und paramilitärische Spiele Einhalt geboten und eine der Bedeutung dieses Ortes angemessene Nutzung ermöglicht wird.

Mit freundlichen Grüßen
für den Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation und die Unterzeichner/innen des Appells vom 12. Juni 2012

PD Dr. Gerrit Hohendorf

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